Evangelisches Jugend- und Schullandheim Neuemühle

Geheimnisvolles Kreuz

Beschriftung des Kreuzes "Unbekannter Flieger - 1944"

Liebe Gäste im Evangelischen Jugend- und Schullandheim Neue Mühle,

wer zum ersten Mal hier ist, denkt vielleicht, hier unten im Eifgental, mitten im Naturschutzgebiet ist nichts los. Aber das stimmt nicht. Es gibt hier jede Menge zu erleben und zu entdecken. Zum Beispiel ein geheimnisvolles Kreuz am Wegrand.

Im Sommer 2022 machten wir uns auf, seinem Rätsel auf die Spur zu kommen. Wir, das sind die ehemalige Hildener Pfarrerin Annette Güldner (gebürtige Wermelskirchenerin) und der ehemalige Hildener Pfarrer Traugott Vitz, beide im Ruhestand und daher mit genug Zeit für spannende Nachforschungen.

Wer von Neuemühle durch den Wald nach Tente hochwandert, entdeckt im oberen Teil des Weges auf der rechten Seite zwischen Ilexbüschen ein Kreuz:

 

Geht man näher heran, erkennt man auf dem Kreuz die folgende Widmung:

Beschriftung des Kreuzes "Unbekannter Engl. Flieger - 1944"
„Unbekannter Engl. Flieger – 1944“

1944 ? Ohne Tagesdatum? Was verbirgt sich wohl dahinter?

 

Ein Tag in diesem Jahr, nämlich der 4. November 1944 hat sich im Gedächtnis der Menschen in Wermelskirchen tief eingebrannt. Bis dahin war man hier von den Schrecken des Bombenkrieges weitgehend verschont geblieben. Aber an diesem Tag schien es, als sei auch Wermelskirchen dem Untergang geweiht. Ein britischer Bombenangriff ließ besonders im Ortsteil Hünger kaum ein Gebäude unbeschädigt. Viele Häuser wurden zerstört und ganze Familien wurden ausgelöscht. Die meisten erstickten in den Kellern, in denen sie Schutz gesucht hatten, unter den Trümmern ihrer Häuser.

Als der Tod vom Himmel fiel“ lautet denn auch der Titel eines Dokumentarfilms, den der Wermelskirchener Filmemacher Matthias Pahl aus Anlass des 70. Jahrestages im November 2014 gedreht hat.

Männer und Frauen, die damals noch Schulkinder waren, jetzt über 80 Jahre alt sind, erinnern sich noch genau (siehe Zeitungsartikel).

Es lag also für uns nahe zu vermuten, dass hier ein bei diesem Luftangriff getöteter englischer Flieger gefunden und begraben worden war. Denn es ist bekannt, dass bei diesem Angriff auch englische Flugzeuge abgeschossen wurden und ihre Besatzungen ums Leben kamen.

Nun konnten wir aber per Internet und mit Hilfe von britischen Militär-Akten schnell klären, dass alle bei dem Angriff am 4. November 1944 abgeschossenen und getöteten Flieger zunächst auf dem Wermelskirchener Stadtfriedhof beerdigt wurden. Nach Kriegsende wurden ihre sterblichen Überreste auf den 1946 von der „Commonwealth War Graves Commission“ (vergleichbar mit der „Kriegsgräberfürsorge“ bei uns) errichteten Soldatenfriedhof „Rheinberg War Cemetery“ (zwischen Wesel und Moers) verlegt. Auf dem Gelände dieser Gedenkstätte haben sie alle, namentlich identifiziert und mit je eigenem Grabstein, ihre letzte Ruhestätte gefunden. Es fehlt keiner.

Wer kann aber denn dann unter dem „Kreuz am Wege“ liegen?

 

Also fragten wir bei der jungen Pfarrkollegin an, zu deren Wermelskirchener Gemeindebezirk „Tente“ unser Jugendlandheim, die Neuemühle und auch der Wald, in dem das Kreuz steht, gehört. Pfarrerin Sabrina Frackenpohl-Koberski hatte in ihrer erst kurzen Amtszeit hier nur Gerüchte und Legenden über Herkunft und Bedeutung des Kreuzes gehört. Aber sie konnte bestätigen, dass es ein „Gedenkort“ ist und immer wieder einmal Blumen davor standen und – besonders zu Weihnachten – auch brennende Grablichter.

Sie vermittelte uns den Kontakt zu Werner Steinhaus, einem ehrenamtlichen Mitarbeiter der Wermelskirchener Kirchengemeinde im Bezirk Hünger, der gleich an den Bezirk Tente angrenzt. Er gehört zu den Überlebenden des Angriffs und erinnert sich noch genau an Einzelheiten (siehe dazu auch den Zeitungsartikel) – aber er wusste nichts von unserem Kreuz und hatte es auch noch nie gesehen.

Wenn er nichts davon wusste, dann konnte unsere Vermutung also durchaus stimmen, dass das Kreuz nichts mit dem Angriff vom 4. November 1944 zu tun hatte. Aber das machte die Sache zunächst ja nur noch geheimnisvoller.

Werner Steinhaus riet uns aber, Erhard Mayland zu fragen, ebenfalls engagiertes Gemeindeglied mit vielen Kontakten und langer Erfahrung im Bezirk Tente.

 

Womit wir nun gar nicht gerechnet hatten: Bei ihm waren wir gleich an der richtigen Adresse.

Das Kreuz war ihm vor vielen Jahren aufgefallen. Aber weil er nicht durchgängig in Tente gewohnt hatte, war er sich nicht sicher, ob es da nicht schon immer gestanden und er es nur nie bemerkt hatte.

Auf dem Waldweg traf er damals einen seiner Nachbarn, den Malermeister Herbert Büngen, und die beiden kamen über das Kreuz ins Gespräch. Der Nachbar erzählte:

Sein inzwischen verstorbener Bruder, der Bauunternehmer Hans Büngen habe das Kreuz vor Jahren bei Planierungsarbeiten gefunden. Und weil es in einem guten Zustand war, habe er es mit nach Hause gebracht, ihm zum fachgerechten Aufarbeiten gegeben und es dann als „Wegekreuz“ im Wald aufgestellt.

Später kaufte und restaurierte Hans Büngen die Neuemühle, wo heute sein Sohn Stephan mit seiner Familie lebt und das denkmalgeschützte Anwesen liebevoll pflegt. Tochter Wiebke Büngen, die Enkelin von Hans Büngen, betreibt das Restaurant. Büngens sind also unsere nächsten Nachbarn hier unten im Eifgental.

Unsere nächste Interview-Adresse führte uns entsprechend wieder ins Tal zurück. Stephan Büngen konnte noch ein paar Details zur Geschichte des Kreuzes beisteuern:

Sein Vater (Jahrgang 1934) hatte einen Freund bei der britischen Rheinarmee, der seinem Betrieb für Landschaftsbau auch mehrmals Aufträge vermittelte. Das waren oft Arbeiten auf Friedhöfen.

Da die beiden ihre Freundschaft bei gemeinsamen Jagdausflügen pflegten, hat der Rest der Familie diesen Engländer nie persönlich kennengelernt. Und so erinnert sich der Sohn auch nicht mehr an den Namen.

Stephan Büngen wusste nicht, wo genau und unter welchen Umständen sein Vater das Kreuz gefunden hatte.

Aber wir haben dazu eine Vermutung: In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es beim britischen Heer den „Missing Research and Enquiry Service“ (MRES). Der hatte die Aufgabe, die Gräber der eigenen gefallenen Soldaten aufzuspüren, die Toten zu exhumieren, zu identifizieren und sie auf die als Gedenkstätten neu angelegten Friedhöfe zu verlegen – so wie es mit den am 4. November 1944 in Wermelskirchen umgekommenen Fliegern vom Stadtfriedhof nach Rheinberg auch geschehen ist.

Die ursprünglich auf den Gräbern stehenden Kreuze hat der MRES dabei nicht mitgenommen. Es ist also gut möglich, dass „unser“ Kreuz nach solch einer „Umbettung“ am ursprünglichen Bestattungsort zurückgeblieben und bei Hans Büngens Erdarbeiten auf diesem Friedhof wieder zum Vorschein gekommen ist.

Das Kreuz brachte Vater Büngen vor etwa 40 Jahren mit. In der Familie Büngen hatte es immer die Bedeutung einer Gedenkstätte, eines Mahnmals gegen den Krieg. Die hat es offenbar für viele andere auch bekommen. Irgendwann hat jemand davor eine einem Grab ähnliche Einfassung aus Steinen verlegt. Das hat die Fantasie sicher noch zusätzlich beflügelt und so entstanden die „Legenden“ vom einsamen Fliegergrab, die auch der Tenter Pfarrerin erzählt wurden.

Stephan Büngen hat vor etwa 10 Jahren ein solides Blechdach anbringen lassen, um das Kreuz vor dem Vermodern zu schützen. Darüber sind wir froh.

Wer ursprünglich einmal unter diesem Kreuz gelegen hat, ist ein Geheimnis geblieben, das wir nicht mehr ergründen können. Das Rätsel, warum es gerade hier im Wald steht, ist aufgelöst.

Auf einem „echten“ Grab steht das Kreuz also nicht. Aber das ändert ja nichts an seiner Bedeutung als Wahrzeichen.

Denn wahr ist, dass unter diesem Kreuz einmal ein toter, viel zu jung gestorbener englischer Soldat gelegen hat: Ein ebenso sinnloses Opfer eines sinnlosen Krieges wie die vielen Frauen, Kinder, Alten und die 24 in der Schule einquartierten Soldaten vom 4. November 1944 in Wermelskirchen-Hünger.

Und wahr ist, dass zwei Männer, wären sie damals nicht noch Kinder gewesen, sich in diesem Krieg als Feinde gegenübergestanden hätten und aufeinander hätten schießen müssen. Mit Feindbildern und Hassparolen gegen „die Engländer“, gegen „die Deutschen“ waren sie aufgewachsen und die Grausamkeit des Krieges hatten sie erlebt. Trotzdem sind sie Freunde geworden. Trotzdem fand der eine, dass das Grabkreuz des unbekannten Landsmannes des anderen, ein mahnendes Wahrzeichen werden und bleiben soll.

 

Wir leben seit 78 Jahren ohne Krieg in unserem Land. Und wir erleben heute, dass viele Menschen die Grausamkeit und Brutalität eines jeden Krieges offenbar nicht mehr wirklich wahrhaben wollen. So als könnte etwas anderes richtiger sein, als das Leiden und Töten so schnell wie nur irgend möglich zu beenden.

 

Darum ist jedes Wahrzeichen notwendig und wichtig, das uns daran erinnert! Dieses hier im Wald genauso wie der große Stein, der seit 1957 in Hünger zum Frieden und zur Versöhnung mahnt:

 

RP-online 2. Juli 2018

Serie Mein Wermelskirchen :

 

Als Bomben auf Hünger fielen

 

Familie Steinhaus lebt im idyllischen Stadtteil Hünger. Aber Werner und Gretel Steinhaus, Hanna Siebel und Manfred Zimmer(v. l.) erinnern sich noch an Kriegszeiten, als das Dörfchen bombardiert wurde. Foto: Jürgen Moll

Wermelskirchen Der 4. November 1944 habe Hünger geprägt wie kein anderer Tag, sagt Werner Steinhaus. Damals starben mehr als 66 Menschen bei einem Bombenangriff der Alliierten. Zeitzeugen, die damals Schüler waren, erinnern sich.

Von Theresa Demski

Wermelskirchen Wenn sich Hanna Siebel an jenen Wintertag im November 1944 erinnert, dann schweift ihr Blick ein bisschen in die Ferne. Die Bilder haben sich eingebrannt. „Meine Freundin und ich sind samstagnachmittags immer zu den Senioren gegangen, um zu singen“, erzählt sie. Auch an jenem Samstag hatte sich die Siebenjährige auf den Weg gemacht.

Es waren nur ein paar Schritte bis zum Haus der Schulfreundin, ein paar weitere bis zum Gemeindehaus. Das Altenheim in Wermelskirchen hatte seine Bewohner in den „sicheren“ Hünger evakuiert. Und nun wartete die junge Hanna also auf ihre Freundin, um gemeinsam aufzubrechen. Um sie herum hatte der Krieg bereits getobt. Schule fand nur noch sporadisch statt. „Und wir waren es längst gewohnt, bei Fliegeralarm Schutz in den Kellern zu suchen“, erzählt Werner Steinhaus.

Aus dem Schlafzimmerfenster hatte er Remscheid brennen sehen, als Freizeitbeschäftigung sammelten die Kinder Bombensplitter und tauschten sie. „Einen habe ich noch“, sagt Manfred Zimmer, „er ist bis heute messerscharf.“ Aber dass es Hünger treffen könnte, davon war niemand ausgegangen.

Nein, Angst habe er damals nicht gehabt, sagt Zimmer. „Ich war sieben und dachte, auf dem Land werden sie schon keine Bomben werfen“, ergänzt er. Am 4. November 1944 verloren die Menschen in Hünger dieses Vertrauen. Als Hanna Siebel, die noch auf ihre Freundin wartete, aus dem Fenster am Horizont die Flugzeuge sah, schallte auch schon der Alarm über das Dorf. „Ich sah, dass die Piloten Christbäume setzten“, erzählt Hanna Siebel.

Leuchtmittel wurden abgeschossen, um den nachfolgenden Fliegern zu signalisieren, wo sich die Ziele befinden. An diesem Tag zielten sie auf Hünger. „Wir sind in den Keller gelaufen, und ich habe die ganze Zeit nach meiner Mutter gerufen“, erzählt sie. Auch Werner Steinhaus und Manfred Zimmer eilten in die Keller. Der eine hatte gerade Runkelblätter für die Kühe gesammelt und sich mit dem Gedanken angefreundet, gleich in den Schulunterricht aufzubrechen. Der andere habe die Sirenen Zuhause gehört. Um kurz nach 14 Uhr fielen Luftminen und Bomben. Schnell merkten die Kinder an der Heftigkeit der Erschütterungen, dass dieser Tag alles verändern würde. „Der Giebel des Nachbarhauses hob sich um einen halben Meter“, erzählt Werner Steinhaus, „alles hat gezittert und gebebt.“

Als die „Hüngeraner“ später aus den Kellern kletterten, herrschte Chaos. „Nebenan brannte ein Haus, und die Nachbarn versuchten zu retten, was zu retten war“, erzählt Steinhaus, der damals elf Jahre alt war, „wir haben geholfen, wo wir konnten, schließlich waren unsere Väter im Krieg“. Kirche, Schule und Gemeindehaus waren getroffen, viele Wohnhäuser zerstört. „Und aus den Kellern hörten wir die Menschen um Hilfe schreien“, erzählt Manfred Zimmer. Viele von ihnen konnten nicht gerettet werden und erstickten.

Wer heute in die Chronik schaut, findet dort die traurige Auflistung jenes Tages: 66 Menschen starben, Nachbarn, Freunde, Schulkameraden. Unter den Toten waren 24 Soldaten. Ob ihnen der Angriff gegolten hatte oder die Flieger Solingen verpasst hatten, wurde nie aufgeklärt. 85 Menschen wurden verwundet, 19 Brände mussten gelöscht werden, 44 Gebäude wurden völlig zerstört, 15 Kühe starben wegen des Luftdrucks. „Als ich aus dem Keller kam, wollte ich nur nach Hause“, erzählt Hanna Siebel. Ihr Bruder war früher am Tag zur Post aufgebrochen, nun warteten alle auf seine Rückkehr. Es sollte lange dauern, bis alle wieder zusammen waren.

Währenddessen wurden in der Kirche die Leichen aufgebart. „Das war schon arg für mich“, sagt Werner Steinhaus. An den Tagen danach lagen die Jungen auf der Lauer, als auf dem Friedhof die Toten begraben wurden. Vergessen haben die Kinder von damals diesen Tag im November nie. Die einen kehrten schnell zurück in den Alltag, die anderen litten noch lange an der Katastrophe. Ein Teil ihrer Geschichte ist dieser Tag geblieben.

 

Info

Chronik und Denkmal

Fotos Lange Zeit habe es keine Fotos gegeben, die die Situation in Hünger nach dem Bombenangriff dokumentiert hätten, erzählen die Zeitzeugen. Jahrzehnte später seien erste Fotografien aufgetaucht. Zum 50. Jahrestag brachten Pfarrer Jens-Peter Preis und Zeitzeugen eine erste Chronik heraus, 2004 wurde sie ergänzt.

Mahnmal Im November 1957, 13 Jahren nach dem Angriff, weihten die Menschen in Hünger unter großer Anteilnahme der Bevölkerung ein Mahnmal ein, das an den 4. November 1944 erinnern soll.